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Prolog: Gottes Wohnung

Eines Abends ging ich wie immer auf dem Bürgersteig der dunklen Straße entlang. Es war ein ungemütlicher Herbstabend. Es nieselte und der Wind bließ den feinen Regen durch die enge Straße genau in mein Gesicht. Ich kannte die Situation, es war nichts Neues für mich. Ich hatte mein schwarzes Regenkape um und die integrierte Regenhaube tief in mein Gesicht gezogen. Ich war vorbereitet. Endlich hatte ich mein Ziel erreicht. In der Wohnung im 1. Stock brannte wie immer Licht. Es war ein sehr warmes, strahlendes Licht. Jeden Tag und jede Nacht leuchtete es aus den Zimmern heraus. Ich blickte kurz nach oben, freute mich ein wenig und ging zu dem Briefkasten der an der großen Eingangstür befestigt war. Den Brief, den ich die ganze Zeit unter dem Regenkape an meinen Körper gedrückt hatte, um ihn vor Nässe zu schützen, musste ich jetzt möglichst schnell raus holen und in den Briefkasten werfen.

Alle wichtigen Wünsche [wichtige was ich brauchte] stand in dem Brief: etwas mehr Geld, Kraft, Konzentration für die nächste Arbeit, die Sehnsüchte für meine Beziehung, die Sorge um die Personen aus meinem Umfeld, die Bitte um Heilung für die fast ewig andauernde Krankheit. Und auch diese Sache, über die ich noch mit niemanden gesprochen hatte, hatte ich zusätzlich klein an den Rand gekritzelt. Am Ende hatte ich noch ein paar Dinge aufgeschrieben, für die ich dankbar bin und den Brief fein säuberlich zusammen gefaltet und in den Briefumschlag geschoben.

Ich freute mich, dass ich den Brief nun endlich abwerfen konnte. Ich öffnete die Briefkastenklappe mit der Aufschrift „GOTT“, schmiss den Brief ein, zog mein Regenkape wieder gerade und ging die Straße weiter. „Warum muss das immer so ungemütlich sein?“, dachte ich und ärgerte mich mal wieder über den nervigen Regen.

So ging es häufig. Ich schmiss meine Briefe immer wieder in den Briefkasten und manchmal passierte sogar etwas, worum ich vorher gebeten hatte. Wenn ich es nicht vergaß, bedankte ich mich im nächsten Brief und verwies noch einmal auf die Bitten, die in meinen Augen eine sehr große Bedeutung hatten und noch nicht erfüllt worden waren.
Eines Abends, die Straße war vom Vollmond etwas heller erleuchtet als sonst, stand ich wieder vor der Tür und zog den Brief unter meinem Kape hervor. Da entdeckte ich eine Klingel. Ich wollte eigentlich nur schnell den Brief einwerfen und wieder weiter, aber die Klingel sah sehr verlockend aus. Wie konnte ich sie in all den Jahren übersehen haben? Ich schaute genauer hin, um zu prüfen, ob sie vielleicht erst gestern angebracht worden war. Aber der kleine Moosrand an der oberen Kante der Klingel verriet, dass sie schon sehr lange da hängen musste. Auch der Schriftzug sah nicht mehr neu aus. Aber man konnte ihn ganz klar lesen. In feinen, handgeschriebenen Buchstaben stand dort zu lesen: Gott.
Ich drückte auf den Knopf und hörte, wie in der 1 Etage schöne Töne die Wohnung erhellten. Jemand bewegte sich. Im ersten Moment dachte ich daran weg zu laufen, aber ich stellte schnell fest, dass ich nicht mehr in dem Alter war, wo man noch Klingelmännchen spielte. Und schon gar nicht bei Gott. Dann hörte ich den Summer und drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich sehr leicht und ich betrat den hellen Hausflur. Was ich dann erlebte, war fast umwerfend. Es war eine andere Welt: draußen nass, kalt, dunkel und ungemütlich und im Hausflur eine wahnsinnig angenehme Atmosphäre. Ich spürte die Wärme im meinem Gesicht, freute mich darüber, das es absolut windstill war und stand einfach nur da und genoss dieses schöne Erlebnis. Ich tauchte in eine Welt, die ich nicht kannte, meine Augen wanderten durch den Flur und ich war mir sicher, dass ich noch nie so einen schönen Eingangsbereich gesehen hatte. Ich roch einen wunderbaren Duft von etwas frisch Gebackenem und mit einer durch meinen ganzen Körper fahrenden Gänsehaut verließ mich die gesamte Kälte.
Ich blinzelte kurz, nahm wie automatisch meinen Brief, legte ihn auf die Treppe die nach oben führte, drehte mich um, verließ den Hausflur und ging auf die dunkle Straße. Auf dem Rückweg dachte ich immer wieder an diesen wunderschönen Moment und vergaß den Ärger über den Regen.

Zwei Tage später. Ich stand wieder vor dem Briefkasten und überlegte, ob ich erneut auf die Klingel drücken sollte. Ich tat es und diesmal erklang das erfreuliche Summen des Türöffners noch viel schneller als beim letzten Mal. Als ich den Hausflur betrat, überlegte ich, wonach es wohl heute riechen würde und war total überrascht, dass es noch viel schöner war als beim letzten Mal. Viel vertrauter, ich fühlte mich, als wäre ich das erste Mal in meinem Leben zu Hause.
Auch wenn ich nicht wusste was mich erwartete, wusste ich was zu tun war. Ich ging die Treppen langsam hoch und hörte, wie jemand erwartungsvoll die Wohnungstür öffnete. Mit jeder Treppenstufe die ich mich empor hob, fühlte ich mich geborgener und lebendiger. Als ich die Wohnungstür sah und die letzten Treppenstufen wie in einem Traum hinauf glitt, schaute ich in ein mir total bekanntes Gesicht, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es war so freundlich und liebevoll. Schöner als die schönste Person auf Erden und barmherziger als die größten Diener dieser Welt. Ich war überwältigt. Ohne meine Augen von diesem wunderschönen Gesicht zu lassen, ging ich auf die Wohnungstür zu und genoss intuitiv die Wärme, den schönen Geruch und das angenehme Licht um mich herum.

Dann geschah etwas seltsames, was ich nicht erahnt hatte. Ich nahm wie ferngesteuert meinen Brief, drückte ihn Gott in die Hand, drehte mich um und ging zügig nach draußen. Als ich die Haustür öffnete und der Regen mir in mein Gesicht peitschte, wusste ich, dass ich etwas verpasst hatte.
Warum bin ich nicht in die Wohnung hinein gegangen? Warum habe ich mich nicht mit Gott unterhalten? Warum habe ich ihn nicht gefragt, was er über meine Briefe denkt? Warum habe ich ihm nicht einfach zugehört? Es war alles zu viel für mich, ich dachte, dass ich das alles nicht verdient hatte, ich spürte etwas in mir, was mich in den regelmäßigen Zyklus meiner anonymen Briefabgabe zog. Etwas in mir sagte, dass ich so weitermachen sollte wie bisher, da es ja eigentlich nicht so schlecht war. Normalität und Routine wollten sich in meinem Kopf breit machen.

Doch bevor ich in halb gebückter Haltung die Haustür durchschreiten wollte drehte ich mich um, ging wieder in den Hausflur, zog mein Regenkape aus, schmiss es mit der Zuversicht, dass ich es nie wieder brauchen würde, schwungvoll auf den Boden und bewegte mich mit schnellen Schritten auf die Treppe zu.
Während die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, eilte ich die Treppe hoch und konnte es kaum erwarten Gottes Stimme zu hören. Als er mich sah, freute er sich noch viel mehr als beim ersten Mal, obwohl ich da schon dachte, dass dies eigentlich nicht möglich sein konnte. Er öffnete seine Arme, kam mir entgegengelaufen, hob mich an und drehte sich wie ein Vater, der sein Kind erfreuen will. Als er mich wieder sanft auf meine Füße stellte, stand ich in der Wohnung und war überwältigt und überrascht zugleich. Wie kann es etwas so wundervolles geben, was ich mir in meinen schönsten Träumen niemals hätte ausmalen können? Wie kann ich einen Ort, den ich zum ersten Mal betrete, als so familiär, heimisch und vertraut erleben?
Gott bat mich ins Wohnzimmer und da entdeckte ich ihn: Meinen Platz. Da gehörte ich also hin. Ich wusste es sofort. Der Sessel war nur für mich gemacht, noch nie hatte jemand darauf gesessen, er war nur für mich bestimmt. Wie von einem Magnet angezogen eilte ich zu dem Sessel und genoss jede Millisekunde, in der ich mich in den schönen weichen Stoff sinken lies. Der Sessel schmiegte sich an meinen Körper und er passte mir besser als meine Lieblingsjeans. Ich fühlte mich wohler als auf einer Strandliege am weiten Meer und lebendiger als auf einem Snowboard, das gerade den weißen Pulverschnee durchschneidet.
Gott grinste, als er mich beobachtete wie ich MEINEN Sessel bewunderte. Er freute sich, dass das Ziel endlich das passende Gegenstück gefunden hatte. „Wie lange hat er hier gesessen und auf den leeren Sessel geblickt?“ Ich vergaß die Frage als ich sah, das Gottes Mund sich öffnete. „In der nächsten Sekunde werde ich das erste Mal live Gottes Stimme hören! Was wird er wohl sagen?“ schoss es mir durch den Kopf. „Welche Weisheit wird er zuerst über mein Leben aussprechen?“ Während meine Gedanken immer schneller Fragen aufwarfen, hörte ich eine liebevolle, nein die liebevollste Stimme, die ich je gehört hatte sagen: „Was willst du trinken? Tee? Kaffee? Oder eine Bionade? Man muss ja auch mit der Zeit gehen“, nuschelte er. Ich grinste und war überrascht. Er wollte wirklich nur, dass ich mich wohl fühle.

Um sicher zu gehen, dass ich wirklich Gott gegenüber saß, bestelle ich einen Milford Tee mit der neuen Geschmacksrichtung „Unser Home-sweet-home-Tee“ mit genau anderthalb Stücken Zucker. Es dauerte nur wenige Sekunden und ein Blick auf das Fähnchen meines Teebeutels und das perfekt durchtrennte Stückchen Zucker verriet mir, dass es wirklich Gott sein musste, der dafür sorgte dass meine Wünsche erfüllt wurden.

Während ich meinen Zucker in den Tee rührte, entdeckte ich an einer großen Pinnwand im Hintergrund alle meine Briefe, die ich bei Ihm in den Briefkasten geworfen hatte. Sie waren sehr ordentlich und strukturiert aufgehängt und an einigen Stellen entdeckte ich hinter meinen Aufzählungen kleine grüne Häkchen. An anderen Stellen hatte er etwas hinter meinen Wunsch geschrieben. Ich konnte es nicht erkennen und sprach Gott darauf an. Er sagte mir, dass er für manche meiner notierten Wünsche viel bessere Alternativen aufgeschrieben hatte, die er mit mir besprechen wollte. Außerdem beschrieben ein paar Stichpunkte in roter Schrift, was passiert wäre, wenn sich meine Wünsche erfüllt hätten. Ich war überrascht, dass ich niemals selber auf die Alternativen gekommen war, erschrocken über die Auswirkungen meiner Wünsche und etwas beschämt über meine egoistischen Bedürfnisse.

Gott besprach jeden einzelnen Wunsch mit mir und ich war angetan wie wichtig ihm meine Belange waren (obwohl sie mir jetzt schon fast ein bisschen peinlich waren). Ich bewunderte sein Bedürfnis, immer nur das aller Beste für mich zu wollen, das ich in jedem Wort was er sprach heraushörte.
Nach dem schönsten Gespräch meines Lebens bedankte ich mich bei Gott, konnte dem Wunsch nicht widerstehen, ihn zum Abschied noch einmal feste in den Arm zu nehmen und versprach, dass ich auf jeden Fall wieder kommen werde.

Es war, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen und doch, als wäre sie stehen geblieben. Ich kann nicht sagen wie lange ich bei Gott gewesen war, es hätten 5 intensive Sekunden aber auch 2 Wochen sein können. Ich wusste es nicht, aber mir war es auch egal. Ich wusste nun, was im Leben wirklich wichtig ist.